Rav Uri Scherki
Zum Gebet - Der Priestersegen
Übersetzung: Rafael Plaut
Von der Webseite Kimizion.org
[Der Priestersegen wird außerhalb Israels nur an Feiertagen gesprochen, in Israel aber jeden Tag im Morgengebet, an Schabbat und Feiertagen zusätzlich im Mussaf-Gebet, und an Jom Kippur auch im Ne'ila-Gebet]. Der Priestersegen erfolgt zwischen den Dankgebeten und dem Segensspruch (Bracha) "Verleihe Frieden", der das Schmone-Esre Gebet beendet. Die Plazierung des Segens an dieser Stelle ergibt sich aus seinem Thema, nämlich des Friedens, "und gebe dir Frieden", und auch die letzte Bracha des Schmone-Esre Gebetes handelt vom Frieden, denn "der Heilige, gelobt sei er, fand kein anderes Gefäß, das den Segen hält, als den Frieden" (Mischna Ukzin 3,12).
Wir müssen uns ein wenig mit der Ordnung dieses Segens beschäftigen, besonders, weil die Tora auf seine genaue Formulierung großen Wert legte: "Also sollt ihr segnen die Kinder Israels, sprich zu ihnen..." (Num. 6,23), daraus entnahm man das Verbot, den Text des Priestersegens zu ändern. Mit genau diesen Worten in genau dieser Anordnung sind die Kinder Israels zu segnen.
Dieser Segen besteht aus drei Teilen:
(1.) "Es segne dich der Ewige und behüte dich.
(2.) Der Ewige lasse dir leuchten sein Antlitz und sei dir gnädig.
(3.) Der Ewige wende sein Antlitz dir zu und gebe dir Frieden" (Num. 6,24-26).
Der erste Segen, "Es segne dich der Ewige und behüte dich", wird im Raschikommentar wie folgt ausgelegt: "Es segne dich der Ewige - daß sich deine Besitztümer mehren, und behüte dich - daß er deine Besitztümer vor Dieben schütze". Darüber können wir uns nur wundern: Das soll der erste Segen sein, mit dem Israel bedacht wird?! Wäre es nicht viel angemessener gewesen, Israel mit einem spirituellen Segen zu segnen, zum Beispiel mit Torastudium? Oder dem Erfüllen der Gebote? Mit dem Verstehen der Göttlichkeit? Mit Liebe zu G~tt? Stattdessen wurde anscheinend den Priestern geboten, sich zuerst sozusagen um das Bankkonto eines jeden Juden zu kümmern - "daß sich deine Besitztümer mehren"?!
Vielmehr lehrt uns die Tora hier sehr wichtige Dinge. Zuallererst das Prinzip, daß alle Brachot auf dem Boden dieser Welt verankert sind. Anders als im Christentum und anderen Religionen üblich, wo die Heiligkeit gerade mit einer von der materiellen Sphäre getrennten, spirituellen Welt identifiziert wird, will uns die Tora lehren, daß die Grundlage aller Grundlagen des von oben kommenden überströmenden Segens vor allem in der Ausweitung und der Vervollkommnung der materiellen Welt besteht. Auch lehrt uns hier die Tora die Moral: Auch wenn du selbst dich von materiellen Dingen so weit wie möglich fernhältst, um dich besser auf Spirituelles konzentrieren zu können, so mag dieses Verhalten wohl zu dir passen - es paßt aber nicht, wenn du deinen Nächsten segnest. Fürchte nicht, ihn durch Mehrung seines Vermögens zu Fall zu bringen. Du hast dich um seine Gesundheit und die Vollkommenheit seines Eigentums zu sorgen, und G~tt gibt seinen Segen dazu.
Erst nach der materiellen Vollständigkeit und ihrer Vervollkommnung wenden wir uns dem zweiten Bereich zu, dem spirituellen: Der Ewige lasse dir leuchten sein Antlitz und sei dir gnädig. "Leuchten" von "Licht" (ora), wie die talmudischen Weisen zum Vers "Bei den Jehudim war Licht" (Esther 8,16) erklärten: "Licht - das ist die Tora" (Megilla 16b). Hier tritt eine große Wende ein. Im ersten Segensspruch wurde der Ausdruck "sein Antlitz" nicht verwendet, denn solange sich der Mensch nur mit seiner materiellen Vervollkommnung beschäftigt, erhält er zwar Segen, aber das "Antlitz G~ttes" ist ihm dabei nicht zugewandt. Diese Stufe erreicht er nur durch die Beschäftigung mit der Tora: "Der Ewige lasse dir leuchten sein Antlitz und sei dir gnädig".
Nach der materiellen Vervollkommnung des "Segne dich..." und der spirituellen Vervollkommnung des "lasse dir leuchten" gelangen wir zum dritten Bereich, der Vereinigung der beiden vorigen. In dem Vers "Der Ewige wende sein Antlitz dir zu und gebe dir Frieden" wird die Einheit der materiellen Welt mit der spirituellen über die Seele des Menschen erreicht, über die es heißt: "Der Ewige wende sein Antlitz dir zu", denn die talmudischen Weisen fragten: "..es heißt in deiner Tora (Dt. 10,17): der das Gesicht nicht zuwendet und keine Bestechung annimmt, und du wendest dein Gesicht Israel zu, wie es heißt: Der Ewige wende sein Antlitz dir zu?" (Brachot 20b). Vielmehr erfolgt die Hinwendung des Gesichtes nicht wegen unserer Taten. Wegen der Taten gibt es keine göttliche Zuwendung, doch seitens der besonderen Eigenheit des Menschen, der besonderen Eigenheit Israels, seitens der Einzigartigkeit unserer Seele sind wir der Zuwendung seines Antlitzes würdig. Gerade über die Seele des Menschen wird die vollkommene Einheit alle Welten offenbar - sowohl der materiellen Welt als auch der geistigen Welt.