Rav Uri Scherki
Die Religionen des Fernen Ostens
Übersetzt aus dem Hebräischen von Rafael Plaut
aus: Rabbi Oury Cherki, Dea Zlula, Jerusalem: Ourim 2015, Seite 327-351
1. Teil
Die Zentren des Einflusses auf der Welt
In der Welt findet heute ein Kampf in der Frage statt, wer die Kultur der Menschheit leitet. Es gibt vier Brennpunkte, die die Führung der Menschheit bezüglich Kultur und Wertvorstellungen für sich beanspruchen.
Einen Brennpunkt bildet die westliche Welt, Träger des christlichen Kulturerbes, allerdings nicht unbedingt christlich im religiösen Sinne. Das Zentrum schwankt zwischen Europa und den USA. Ein weiterer Brennpunkt liegt im Islam, der heute aufs Neue erwacht und auf aggressive Weise den Platz der USA als Führungsmacht für sich beansprucht. Auch das Judentum bildet einen Brennpunkt, ist sich aber noch nicht seiner Kraft bewusst, der Welt eine kulturelle Alternative zu bieten. Der vierte Brennpunkt schließlich findet sich im Osten, im weiteren Sinne des Wortes. Zwischen den spirituellen Strömungen des Fernen Ostens sticht besonders der Buddhismus hervor, jedenfalls was seine Präsenz in den Medien betrifft, genauer gesagt der tibetanische Buddhismus.
Wollen wir noch bemerken, dass es bis vor nicht allzu langer Zeit noch einen Brennpunkt gab, nämlich den Kommunismus, der sich heute auf dem Rückzug befindet. Was die übrigen Kulturen auf der Welt angeht, in Südamerika, Australien und Afrika, kann man wohl sagen, dass sie keine entscheidende historische Rolle spielten. Die Kulturen der Maja und Inka waren hoch entwickelt, doch ihr Einfluss gelangte nicht über die Grenzen Südamerikas hinaus. Das gleiche gilt auch für die Aborigines in Australien, ebenso für Schwarzafrika, das sich heute hauptsächlich der christlichen und in etwas geringerem Maße der muslimischen Welt anschließt.
Die westliche und die östliche Sphäre
Wenn wir uns einmal die Landkarte betrachten, sehen wir, dass G~tt seine Welt in zwei verschiedene Sphären einteilte, zwischen denen über Tausende von Jahren so gut wie keine Kontakte bestanden - nämlich die 'westliche Sphäre' und die 'östliche Sphäre'. Es stellt sich die Frage, warum G~tt seine Welt so einteilte?
In geografischer Hinsicht gibt es eine Linie, die Asien von Nord nach Süd durchquert, wobei sie im Süden bis zur Wüste des Pundschab reicht, zur Grenze zwischen Pakistan und Indien, und weiter über eine sehr hohe Bergkette, das Kaschmirgebirge. Nördlich davon, in Zentralasien (das Gebiet um Kasachstan) gibt es trockene Steppen, die nur schwer zu besiedeln sind, und dahinter Sibirien, das sich bis zum arktischen Ozean erstreckt. Mit anderen Worten: Es gibt ein großes geografisch-topografisches Hindernis, das G~tt zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil der Welt des Altertums einfügte.
In historischer Hinsicht bestand eine intensive und ständige Verbindung zwischen den verschiedenen Völkern westlich dieser Linie, die z.B. in folgenden Gebieten lebten: Persien, Babylonien, Israel, Griechenland, Rom, Spanien Nordafrika u.a. Dieser ganze Raum stand in ununterbrochener Verbindung sowohl in politischer als auch in kultureller Hinsicht im Verlauf von Tausenden von Jahren. Praktisch stellt diese Sphäre den "Westen" im weiteren Sinne des Wortes dar und nicht im Sinne der bekannteren eingeschränkten Bedeutung des europäischen griechisch-römischen Kulturkreises. - Das ist der eine Teil der Welt.
Östlich dieser Linie finden wir Länder, die auch in ununterbrochener Verbindung miteinander standen, nämlich Indien, China, Japan, Burma, Korea u.a. Auch in dieser kulturellen und politischen Sphäre existierten Wissensaustausch, kulturelle Beziehungen, Handel usw.
In der Vorzeit bestanden wie gesagt kaum Kontakte zwischen jenen beiden Sphären. Für die Chinesen waren die Europäer die fernen Barbaren des Westens, von denen kaum jemand wusste, wie sie überhaupt aussahen. So verhielt es sich auch auf der anderen Seite. Es gab Geschichten, die Marco Polo erzählte, der jahrelang in China gelebt hatte, doch nicht immer glaubte man ihm. Auch als er seiner Umgebung die chinesischen Kleidungsstücke zeigte, die Edelsteine und den Schmuck, den er von dort mitgebracht hatte, zweifelten immer noch viele an der Wahrheit seiner Geschichten. So bestand eine Zweiteilung der Menschheitskultur, und wenn die Weltgeschichte eine tiefere Bedeutung hat, dann müssen wir den göttlichen Plan verstehen, der in dieser Aufteilung zum Ausdruck kommt.
Das Judentum und der Osten
Was bedeutet der Osten für uns, und warum siedelte das Volk Israel in seiner ganzen Geschichte niemals im Osten?
Das Volk Israel hat eine wichtige universale Aufgabe zu erfüllen, ob es in seinem Land wohnt oder ob es zwischen den Völkern verstreut lebt, wie es lange Perioden in seiner Geschichte der Fall war. Die Länder des jüdischen Exils befanden sich ausschließlich im westlichen Teil der Welt, nicht im östlichen. Es wird zwar behauptet, das Volk Israel übte auch verdeckten Einfluss im Osten aus - in Form der Geschenke, die Awraham den Kindern der Nebenfrauen mitgab (dazu später mehr), und der zehn verlorenen Stämme, die anscheinend dorthin gewandert waren. Manche behaupten, die japanische Kultur begann bei den Juden. Letztendlich aber konzentrierte sich der offene und fühlbare Einfluss des Volkes Israel, auch heute noch, auf den westlichen Teil der Welt.
Im östlichen Teil leben Milliarden Menschen von hochentwickelter Kultur. Wenn dem so ist, warum gibt es keine Juden im Osten? Es gab zwar kleine jüdische Gemeinden in China und auch in Indien, doch die Geschichte des Volkes Israel konzentrierte sich fast vollständig auf den westlichen Teil der Welt: das Land Israel, Babylonien, Europa, Nordafrika, USA u.a. Dort befanden sich die Einflusszentren des auserwählten Volkes.
Bemerken wir noch, dass die wenigen Juden, die im Osten lebten, erhöhter Gefahr der Assimilation ausgesetzt waren. Die Exile, in die wir bis in unsere Tage verbannt wurden, lagen bei Edom und Ischma'el, die 'zur Familie' gehören, zum gleichen Hause. Darum hatten wir bei den von ihnen durchgeführten Verfolgungen eine bessere Überlebenschance. Doch als die Juden von Kaifeng1 den chinesischen Behörden beweisen mussten, dass zwischen dem Judentum und dem Konfuzianismus kein Widerspruch besteht, entstanden dort die merkwürdigsten Symbiosen.
1Die Gemeinde von Kaifeng war die älteste jüdische Gemeinde in China. Sie wurde im 11. Jahrhundert gegründet, anscheinend von Juden aus Indien und Persien. Der letzte Rabbiner der Gemeinde von Kaifeng starb gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Heute sehen sich etwa 1000 Einwohner von Kaifeng als Teil der jüdischen Gemeinde, und in den letzten Jahren wanderten einige der Juden nach Israel ein.
Der zentrale Unterschied zwischen der Kultur des Westens und der Kultur des Ostens
Trotz der Schwierigkeit, so enorme Gebiete zu behandeln, gibt es doch ein bedeutsames Charakteristikum, das zwischen der Kultur des Westens und der Kultur des Ostens unterscheidet. Man kann wohl sagen, wenn auch nicht auf absolute Weise, dass der Begriff "Fortschritt" eine westliche Idee darstellt. Der westliche Mensch ist davon überzeugt, dass sich die Welt ständig verändert und dass es sich lohnt, sie zu ändern, während die einfache Intuition des Ostens die Beständigkeit als Ideal sieht. Zum Beispiel sind in den Kunstmuseen verzierte chinesische Vasen von vor 400 Jahren zu bewundern, die mit ihren Vorgängern von vor über 3000 Jahren fast identisch sind. Es gibt also anscheinend eine Bestrebung, eine Kunstform zu bewahren, die als optimal gilt.
Die Idee von einer sich ständig weiterentwickelnden Welt ist eine jüdische Idee, die vom Westen angenommen wurde2.
2In seinem bekannten Buch "The Gifts of the Jews" (hebr. Matat Hajehudim) schreibt der christliche Historiker Thomas Cahill wie folgt: "Die Juden gaben uns das Äußere und das Innere ... unsere Weltanschauung, unser spirituelles Innenleben ... wir träumen jüdische Träume, hoffen jüdische Hoffnungen, die meisten unserer wichtigsten Begriffe wie neu, Abenteuer, Überraschung, einzigartig, Einzelner, Mensch, Bestimmung, Zeit, Geschichte, Zukunft, Freiheit, Fortschritt, Geist, Glauben, Hoffnung, Gerechtigkeit - sind eine Gabe der Juden.
Bei den antiken Griechen bestand ein Streit zum Thema Fortschritt mit unterschiedlichen Sichtweisen. Die Schule des Heraklit zum Beispiel sprach von einem ständigen Fließen (panta rhei, alles fließt) und nicht von einem Endzweck. Letztendlich aber gewannen jene Ideen die Oberhand, die von Veränderung und Weiterentwicklung der Welt sprachen.
Im Osten jedoch fielen diese Ideen nicht auf fruchtbaren Boden. Erfindungen und Entdeckungen, die im Westen mit Beginn der industriellen Revolution erschienen, waren in China schon 500 Jahre vorher bekannt, nur machte man dort keinen Gebrauch davon. Die Chinesen schickten sogar besondere Schiffe auf die Reise, die bis zu den Ufern Arabiens und Afrikas vordrangen, doch bei ihrer Rückkehr nach China befahl der Kaiser, sie zu verbrennen. Er war neugierig, was es dort gab, im westlichen Teil der Welt, und nachdem seine Neugier befriedigt war, konnte man die Schiffe vernichten; es bestand keine weitere Notwendigkeit, die Welt zu erforschen.
Schon im 11. Jahrhundert waren in China Entdeckungen wie das Drucken, die Himmelskarte, das Schwarzpulver, der Kompass, das Vergrößerungsglas u.a. bekannt. Nur dass sie das Schwarzpulver zur Herstellung von Feuerwerk verwendeten, den Kompass zu einem mystischen Gerät machten und die Himmelskarte zur Verschönerung des kaiserlichen Palastes aufhingen. D.h. der Chinese dachte nicht daran, wenn er etwas Neues entdeckt hatte, dass er deswegen die Welt verändern müsse, wohingegen der westliche Mensch danach strebte, mithilfe jeder neuen Entdeckung die Welt zu verändern. Diese Einstellung, die für die westliche Kultur seit vielen Jahrhunderten kennzeichnend ist, führte zur industriellen Revolution in der Mitte des 18. Jahrhunderts und zu dem enormen Fortschritt des 20. Jahrhunderts.
Zwischen Fortschritt und Beständigkeit
Die Frage lautet: Welcher Standpunkt ist der richtige für die Welt - derjenige, der Beständigkeit fordert, oder derjenige, der nach Änderung und Fortschritt strebt?
Das erste Kapitel des Buches Bereschit (Genesis, 1. Buch Moscheh) erzählt uns, wie die Welt zweimal erschaffen wurde. Das erste Mal in den ersten drei Tagen, das zweite Mal in den folgenden drei Tagen. Am ersten Tag wurde das Licht geschaffen, am zweiten Tag der Himmel und das Meer, und am dritten Tag das Land und die Gewächse. An den folgenden drei Tagen wurden genau diegleichen Dinge geschaffen: am vierten Tag die Himmelslichter, d.h. Licht in Bewegung, am fünften Tag die Vögel und die Fische, Lebewesen, die sich im Himmel und im Meer bewegen, und am sechsten Tag die beweglichen Gewächse - die Tiere, und die bewegliche Erde (adama) - der Mensch (adam).
Die Tora offenbart uns damit zwei Ebenen der Wirklichkeit - eine statische und eine dynamische Welt - die beide in der Schöpfungsgeschichte beschrieben werden. Und es gibt noch einen Unterschied: Nach dem dritten Tag passierte nichts Besonderes, aber nach dem sechsten Tag kam der Schabbat; der Schabbat bedeutet ein Ziel. D.h. die dynamische Welt ist eine Welt, die auf ein Ziel zusteuert, während die statische Welt kein Ziel sucht. Doch obwohl der Schabbat ein Ziel darstellt, tut man am Schabbat überhaupt nichts. Am Schabbat gelangt die dynamische Welt endlich zu einer Ruhe, die der der statischen Welt gleicht. Der Schabbat bildet also die Synthese dieser beiden Welten.
Von hier aus lässt sich sagen, dass die östliche Welt zu den ersten drei Tagen der Schöpfungswoche gehört, und die westliche Welt, die sich der Notwendigkeit des Fortschritts bewusst ist, zu den letzten drei Tagen. Das Volk Israel bildet den Berührungspunkt zwischen der östlichen und der westlichen Welt, denn der Schabbat ist doch der Tag des Volkes Israel, der Schabbat ist die 'Lebensgefährtin' des auserwählten Volkes.
Wozu aber müssen wir so schwer arbeiten, wenn am Ziel letztendlich die Ruhe steht? Vielmehr besteht ein Unterschied zwischen Ausruhen von Anstrengung und einem Ausruhen, dem keine Anstrengung voranging. "Süß ist der Schlaf des Ackerbauers" (Prediger 5,11). Ein werktätiger Mensch spürt Süße bei seinem Schlaf, denn er enthält auch die Vorzüge der Bewegung.
Damit wird verständlich, warum für die Kabbalisten die Woche mit dem vierten Tag (Mittwoch) beginnt. Mittwoch, Donnerstag und Freitag sind der Teil der Woche, der den Schabbat vorbereitet - dann erheben sich die Lebendigkeit, der Geist und die Seele. Und Sonntag, Montag und Dienstag sind die Tage, an denen man die Erleuchtung des Schabbat in sich aufnimmt: am Sonntag die Erleuchtung der Seele, am Montag die Erleuchtung des Geistes, und am Dienstag die Erleuchtung der physischen Lebendigkeit. Es ergibt sich, dass sich zwischen Dienstag und Mittwoch der Übergang von Lebendigkeit zu Lebendigkeit befindet, und dort beginnen wir die Woche.
Die Festlegung des Wochenbeginns nach den Kabbalisten (am Mittwoch) zeugt von einer aktiven Einstellung der Vorbereitung auf den Schabbat, während die drei Tage nach dem Schabbat einen passiven Charakter tragen - wir erhalten die Erleuchtungen des vorangegangenen Schabbats. Auch die Halacha (das Religionsgesetz) erkennt diese Aufteilung an, indem sie erlaubt, die Hawdala (wenn man am Schabbatausgang verhindert ist) bis Dienstag abzuhalten.
2. Teil
Der Aufstand - die Geschichte vom Turmbau zu Babel
Gibt es einen Hinweis in der Tora auf die Teilung der Welt in Osten und Westen? Im Buch Bereschit (11,1-2) heißt es:
"Und es war auf der ganzen Erde eine Sprache und einerlei Worte. Da war es, als sie von Osten fortzogen..."
Die Tora erzählt uns die Geschichte von einer Gruppe von Leuten, die sich entscheiden, fortzuziehen. Wenn ein Mensch sich aufmacht und fortzieht, ist er anscheinend mit seinem derzeitigen Wohnsitz unzufrieden und erwartet, andernorts bessere Lebensbedingungen vorzufinden. Diese Reise vermittelt uns die Geburt der Idee des Fortschritts. Damit begann praktisch der Fortschritt (Kidma): "Da war es, als sie von Osten (miKedem) fortzogen". Diese Leute ziehen "von Osten", vom Osten in Richtung Westen. D.h. ihr Ziel war der Westen. Der Zug westwärts bildet das Fundament für die Kultur des Fortschritts - und das ist die Kultur des Westens im weitesten Sinne des Wortes.
"...fanden sie ein Tal (Bik'a) im Lande Schin'ar, und dort ließen sie sich nieder" (11,2).
Das Tal ist ein ebener und tiefliegender Ort. Wenn sie ins Tal gelangt waren, ist das ein Zeichen, dass sie vorher auf dem Berg waren. Östlich von Babel liegen das Sagros-Gebirge und die iranische Hochebene3. Sie kamen von dort her und siedelten in der Ebene. Zu den Worten "Da war es, als sie von Osten fortzogen" schreibt der Raschikommentar: "Dort wohnten sie, wie oben steht (10,30), ihre Wohnsitze waren ... bis zum Gebirge im Osten". Der "Kedem-Berg" liegt allem Anschein nach im Gebirgszug des Hindukusch (im Norden Afghanistans), an der Grenze zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil des asiatischen Kontinents. Dort begann die Völkerwanderung: die einen nach Osten und die anderen nach Westen, und von dort nach Babel.
3Das Sagros-Gebirge ist ein Gebirgszug in Südwestasien, der sich über 1500 km im Westen des Iran und etwas vom Osten des Irak erstreckt, beginnend etwa von Kurdistan, entlang der iranisch-irakischen Grenze bis zur Meerenge von Hormus. Dieses Gebirge bildet die Ostgrenze des Nahen Ostens.
Hier ist also von einer Bevölkerung die Rede, die nach Westen zog, um eine Kultur zu gründen, die in Konkurrenz zur Göttlichkeit stehen sollte. Zu diesem Zweck siedelten sie im Tal und begannen einen Turm zu bauen, der bis an den Himmel reichen sollte - und das ist höchst seltsam, denn um einen Turm zu bauen, der so hoch wie möglich reicht, wäre es doch viel besser, ihn auf einem Berg zu bauen und nicht im Tal. Doch die Tora erzählt uns, dass sie sich entschieden hatten, den Berg zu verlassen und den Turm gerade im Tal zu bauen.
Eine weitere Schwierigkeit, die wir in dieser Geschichte antreffen, betrifft die große Menge Steine, die zu so einem Bau nötig sind, und im Tal gibt es keine Steine, sondern nur baren Boden. Darum mussten sie den Ziegelstein erfinden, einen künstlichen Stein, und von hier leiten wir ihren Willen ab, die Gottheit auszutauschen: G~tt schuf die Berge in seiner Welt - und wir machen unseren eigenen Berg. Das ist das Fundament der prometheischen Auflehnung.
"Und sie sprachen einer zum andern: Gib her, wir wollen Ziegel schaffen und brennen zu Brand. Und es war ihnen der Ziegel statt des Steines und das Erdharz war ihnen statt Mörtels" (11,3).
Zur Herstellung der Ziegel bedienten sie sich des Elementes des Feuers, d.h. der Technologie, und als sie sich der Größe dieser technologischen Errungenschaft bewusst wurden, nutzten sie sie zur Auflehnung. Daraus entwickelte sich der griechische Mythos von Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl, um es dem Menschen zu geben und dafür bestraft wurde. Der menschliche Erfolg gilt in gewissem Maße als Auflehnung.
Nach der Tora ging die Idee vom Turmbau zu Babel von Nimrod aus (nimrod im Hebräischen: Aufforderung zur Auflehnung) - ein Mann von tiefer Ideologie und ein großer Idealist. Man kann sich darüber länger auslassen, doch kurz gesagt betrachtete Nimrod seine Umgebung, und weil er sah, dass die Welt schlecht war, entschied er, dass jemand daran schuld sei. Nimrod behauptete, die Schuld läge bei demjenigen, der die Welt geschaffen hatte - darum müsse man sich von ihm trennen und eine Alternative zu dessen Herrschaft aufbauen. Wie das im Turmbau zum Ausdruck kommt, ist eine andere Frage, aber auf jeden Fall war das Nimrods Plan.
Awraham, nach dem Midrasch ein Zeitgenosse Nimrods, beschloss, sich den Turmbauern anzuschließen, wie Rabbi Awraham ibn-Esra schrieb: "Awraham war einer der Erbauer des Turmes". Unser Vorvater Awraham, der auch ein großer Idealist war und die Welt verbessern wollte, versucht es zuerst auf Nimrods Weise. Doch bald erkannte er die Größe des Irrtums und gelangte zu einem ganz anderen Schluss - die Welt befand sich in einem schlimmen Zustand, weil sie den Schöpfer der Welt vergaßen. Awraham verfolgte nunmehr eine Strategie der Auflehnung gegen den Auflehner, um die Königsherrschaft G~ttes wiederherzustellen, um dadurch die Probleme der Welt zu lösen.
So wird verständlich, warum das Erscheinen des Volkes Israel vor dem Hintergrund des Turmbaus zu Babel stattfand, und das ist die Erklärung dafür, warum unsere Vorfahren nicht im Osten siedelten. Der Osten, nach der Geschichte vom Turmbau zu Babel, nahm an der Auflehnung nicht teil.
Das Vergessen - das Zeitalter Enoschs
Wie gesagt sündigte der Westen die Sünde der Auflehnung des Turmbaus zu Babel, und worin bestand die Sünde des Ostens?
Nach der Tora sündigte der Osten die Sünde der Vergesslichkeit. Das ist eine frühere Sünde, genannt 'das Zeitalter Enoschs'. In der Tora wird von Schet erzählt, Sohn des Ersten Menschen, auf den die Welt gegründet (huschtat) wurde. Der Sohn Schets, Enosch, war der Überlieferung nach der Erfinder der Religion. Im 1. Buch Moscheh heißt es: "...und er nannte seinen Namen Enosch. Damals fing man an, im Namen G~ttes zu verkünden" (4,26), womit das religiöse Gefühl gemeint ist, die Anbetung, der Götzendienst. Enosch erfand die Vielgötterei.
Warum brauchte der Mensch plötzlich solche Rituale? Die Antwort lautet, dass sich die Menschheit auf dieser Stufe von der Göttlichkeit entfernt hatte. Der Erste Mensch und sein Sohn Schet hatten kein Bedürfnis an religiösen Handlungen. Ihre Nähe zur Göttlichkeit war so eng, dass sie nicht daran erinnert zu werden brauchten. Die Religion ist ihrem Wesen nach auf das Bedürfnis gebaut, dem Menschen die vergessene Göttlichkeit in Erinnerung zu rufen. Demnach ergibt sich, dass die Vergesslichkeit in der Generation von Enosch begann, wegen des Abstands vom Anbeginn.
Der Name Enosch kommt im Hebräischen von 'Vergesslichkeit': "denn vergessen (naschani) ließ mich G~tt mein Mühsal und das ganze Haus meines Vaters" (Gen. 41,51). naschani, von Neschia, Vergesslichkeit. In der Tora heißt es: "Den Hort, der dich gezeugt, versäumtest du, und vergaßest G~tt, der dich geboren" (Dt. 32,18). G~tt schuf uns als Vergessliche, das gehört zur Natur des Menschen. Wie kann es demnach angehen, dass G~tt der Menschheit eine ewigliche Lehre übergibt, wo er genau weiß, dass sie in Vergessenheit geraten kann?
In den Psalmen heißt es: "Zurück müssen die Frevler in die Hölle, alle Völker, die g~ttvergessenen" (9,18), und im Buch Daniel, über das Volk Israel: "das Volk, das seinen G~tt kennt" (11,32). Aufgrund der Vergesslichkeit obliegt uns also eine universale Aufgabe - zu erinnern. Nachdem wir uns mit der dringenderen Sache auseinandergesetzt hatten, mit der Auflehnung, wenden wir uns nun der Auseinandersetzung mit der frühesten Sünde zu, nämlich der Vergesslichkeit.
Name gegen Ehre
Demnach wird auch die Neigung der westlichen Welt verständlich, dem Schöpfer einen Namen zu geben, während die östliche Welt es vorzieht, ihn nicht mit einem Namen zu benennen. Wenn der Gott einen Namen hat, dann bedeutet das, es gibt jemanden, an den man sich wenden kann, und wenn er keinen Namen hat - gibt es niemanden, an den man sich wenden kann, ein unpersönlicher Gott.
Im Buch Daodejing heißt es:
"Der Weg (Dao), der mitgeteilt werden kann, ist nicht der ewige Weg.
Der Name, der genannt werden kann, ist nicht der ewige Name.
Das Namenlose ist der Anfang von Himmel und Erde.
Das Benannte ist die Mutter der zehntausend Dinge" [Feng/Luetjohann].
So beginnt das Buch, das von Lao-Tse verfasst wurde, einem chinesischen Philosophen, der vor etwa 2500 Jahren lebte. Diese Worte bringen in konzentrierter Weise den zentralen Geist des chinesischen Kulturgebietes zum Ausdruck: Der Gott hat keinen Namen. Demnach ergibt sich, dass es dort Vergesslichkeit gibt4.
4Einmal fragte ich einen Fachmann für Taoismus, ob es in China Leute gab, die den Namen des Dao kannten (auf den ersten Blick eine unsinnige Frage, denn der Dao hat keinen Namen), und er antwortete, es gab Leute, von denen man sagte, sie wüssten ihn, obwohl sie selbst das nicht behaupteten.
Im Westen, und besonders im Judentum, ist das Wissen um den G~ttesnamen eine sehr wesentliche Angelegenheit, und das geht soweit, dass Moscheh, als er die Aufgabe übernimmt, zu den Kindern Israel zu sprechen, er G~tt um dessen Namen bittet, weil er weiß, dass die Kinder Israel wissen werden wollen, in wessen Namen er sich an sie wendet. Das Wissen um den Namen des Schöpfers ist wichtig. Der Name (schem) weist auf eine Richtung, auf ein Ziel - leSchem ma (wozu?), d.h. zu welchem Zweck. Wir sehen also, dass es eine Neigung in der ganzen westlichen Sphäre gibt, von den Ländern des Islam westwärts, G~tt einen Namen zu geben: Man nennt ihn Allah, Theos, Dieux, De'us, G~d usw., im Gegensatz zum Osten - dort gibt es keinen Namen.
Nach alledem gibt es dennoch etwas in den Kulturen des Ostens? Ja, und zwar Ehre. Es gibt ein Wissen von einem Ursprung allen Lebens, aller Weisheit, aller Schönheit, allen Seins - doch der Ursprung ist nicht relevant. Man kann sogar sagen, er sei tot oder habe sich aufgelöst. Der Hinduismus zum Beispiel geht davon aus, dass die Welt aus dem Zerfall des Brahma entstand. Der Ursprung 'allen Seins' zerfiel, und daraus entstand die Welt, sodass die Mission des Brahma praktisch mit der Schöpfung der Welt beendet war.
Der Buddhismus geht noch weiter: Es gibt überhaupt keinen Gott, sondern nur das absolute Nichts. Diese Auffassung lässt sich auf psychologische Weise mit dem Ödipuskomplex verbinden - der Vatermord als Fundament der Identität. Der Mensch ermordet seinen Vater, um dadurch seine eigene Existenz zu sichern. Die Existenz gründet sich sozusagen auf die Ursünde des Mordes, und das verursacht den Wunsch des Menschen, für seine eigene Existenz zu sühnen - daher das Streben zum Nichts. Demnach bildet das Vergessen die Basis für die Hoffnungslosigkeit der Kultur des Ostens, und das erklärt die Neigung zum Pessimismus in dieser Sphäre.
Die Gefahr beim Geben eines Namens liegt im Abgleiten in den Götzendienst, und die in der Ehre verborgene Gefahr liegt im Atheismus. 'Ehre' bedeutet absolute Abstraktheit, eine Neigung, die sich in der Philosophie findet und auch in gewisser Weise im Islam zum Ausdruck kommt, in der Verneinung der Verkörperlichung, die im Extrem im Buddhismus erscheint, bis dass man den Buddhismus eine atheistische Religion nennen kann.
Und so sprach der Prophet Jeschajahu (59,19-20):
"Und fürchten sollen sie vom Niedergange den Namen des Ewigen, und vom Aufgange der Sonne seine Ehre"
Von hier lernen wir, dass die G~tteserkenntnis im Westen "Name" heißt, und im Osten "Ehre". Die Einteilung ist klar: Im Westen lautet das Ziel, G~tt zu fürchten, während im Osten das Verhältnis eines der Ehre ist. Der Prophet fährt fort:
"wenn kommt wie ein Strom der Feind, den der Sturm des Ewigen forttreibt. Aber für Zion kommt er als Erlöser, und für die, die sich bekehret von Schuld in Jakov",
und das wird geschehen, wenn das doppelte Werk, das Wissen des Namens im Westen und die Ehre im Osten, vollendet ist. Im Schma-Gebet sagen wir: "Gelobt sei der Name der Ehre seines Reiches immer und ewig". Das Wissen um G~tt im Judentum ist dynamisch - Liebe und Furcht, Nähe und Entfernung in Einem. Demnach haben wir doppelte Arbeit zu leisten: das Wissen um den Namen und das Wissen um die Ehre - und die Verflechtung dieser beiden Erkenntnisse.
3. Teil
Der historische Hintergrund der Religionen des Ostens
Nachdem sich die Göttlichkeit nach der Zerstörung des Ersten Tempels entfernt hatte, trat in der Welt eine bedeutende Änderung ein. Durch die Tempelzerstörung befand sich die gesamte Menschheit in einem Zustand der Leere. Als Resultat begannen an verschiedenen Orten der Welt Alternativen zur Prophetie aufzutauchen.
Etwa 500 Jahre vor der Zeitrechnung, zur Zeit des babylonischen Exils, entstand in Griechenland die griechische Philosophie. Parallel dazu entwickelte sich in Persien die Religion des Zarathustra, und in der Nähe entwickelten sich im östlichen Teil der Welt der Buddhismus des Siddhartha Gautama, und auch der Taoismus und der Konfuzianismus in China.
Diese Erscheinungen spielten sich in den beiden kulturellen Sphären ab, die kaum in Kontakt miteinander standen, innerhalb einer Zeitperiode von etwa hundert Jahren. Die Entfernung der Göttlichkeit nach der ersten Tempelzerstörung erweckte in der Menschheit das Bedürfnis, das entstandene Vakuum anzufüllen. Einige Jahrhunderte später entstanden das Christentum und danach der Islam, beides Resultate, wenn auch spätere, der Entfernung der Göttlichkeit aus der Welt.
Wer diese Änderungen voraussah, war der Prophet Jirmijahu (16,19-21):
"Ewiger, meine Macht und meine Feste und meine Zuflucht am Tage der Not! Zu dir werden Völker kommen von den Enden der Erde und sprechen: Lüge nur haben unsere Väter ererbt, Tand, daran kein Nutzen ist. Wie, Menschen machen sich Götter und sind selber keine Götter? Darum siehe, ich will sie bekannt machen, dieses Mal will ich sie bekannt machen mit meiner Hand und mit meiner Stärke; sie sollen es erfahren, dass mein Name ist: Ewiger".
Der Prophet Jirmijahu, der gegen Ende des Ersten Tempels lebte, in der Endphase der Prophetie, spürte, dass die Welt vor einer Veränderung stand, die zukünftig die alte Tradition der primitiven Vielgötterei erschüttern würde, der wir im Tanach begegnen.
Der Buddhismus
Der Polytheismus, oder die Vielgötterei, besteht im Fernen Osten in verschiedenen Lesarten bis auf den heutigen Tag, zum Beispiel der Hinduismus, die vorherrschende Religion in Indien und drittgrößte Religion der Welt, die auf uralte Wurzeln in der Literatur des Rigveda5 zurückgeht. Später entstanden dazu spirituelle Reaktionen wie der Buddhismus, der als Reaktion auf den Hinduismus entstand, eine Art Negierung der Kultur der Vielgötterei. Nur dass sich der Buddhismus im Laufe der Generationen selbst zu einer Art Vielgötterei entwickelte, weil er von einer Gesellschaft aufgenommen wurde, die nicht fähig war, sich von der Vielgötterei zu trennen.
5Der Rigveda ist eine religiöse Textsammlung, die als älteste des Hinduismus gilt und 1028 Hymnen an verschiedene Götter enthält.
Man sollte den Hintergrund des Buddhismus kennen, und zu diesem Zweck wollen wir uns die Worte Rabbiner Kuks in seinem Buch Orot ("Lichter") anschauen [aus dem Artikel Lemahalach ha'ideot beIsrael, 5. Kapitel]:
"Diese göttliche Milde, die jedes einzelne Kosten des Lebens begleitet, befähigt dazu, auf das Leben und die Wirklichkeit mit Wohlwollen und der Freude der Gerechten zu blicken, zu erkennen, dass alles, was G~tt gemacht hat, sehr gut ist".
Rabbiner Kuk spricht von der Epoche des Ersten Tempels. In jenen Tagen wurde die Frage, wofür der Mensch lebe, überhaupt nicht gestellt. Wenn das Leben angenehm ist und jeder gesichert unter seiner Rebe und seinem Feigenbaum sitzt, bietet das Leben selbst die Antwort auf diese Frage. In dem Moment, wenn sich der Mensch fragt, wofür er eigentlich lebe, ist das ein Zeichen, dass er schon nicht mehr so sehr lebt. Darum begannen die metaphysischen Fragen über die Bedeutung des Lebens in der Menschheit erst nach dem Aufhören der Prophetie gestellt zu werden. Die unmittelbare Verbindung mit G~tt schuf eine unmittelbare Verbindung mit dem Leben, und darum gab es zu jener Zeit auch noch nicht den Begriff 'kommende Welt'. Wozu braucht der Mensch eine 'kommende Welt', wenn die derzeitige Welt doch sehr gut ist?
Weiter bei Rabbiner Kuk:
"Im Gegensatz dazu kann die Welt der Vielgötterei, die nicht über diese lebendige göttliche Milde verfügt, die von der Quelle des Lichtes der höchsten göttlichen Idee von der Natur der Schaffung Israels stammt, sich nicht in der Ruhe des Lebens und dessen Freude niederlassen".
Die Welt der Vielgötterei entstand aus einem tiefen Bewusstsein der gegensätzlichen Werte, die in der Welt existieren. Liebe und Hass können nicht Erscheinungen aus einundderselben spirituellen Quelle sein. Der Verstand kann sich damit nicht abfinden. Darum muss es zwingend einen Gott der Liebe und einen Gott des Krieges geben. Und so ist der Mensch in eine Welt des existenziellen Dilemmas gegeben, für das es keine Lösung gibt.
"Ihr Unmut findet überall, wo sie hinschaut, nur Fluch, welcher sie mit Grimm und grausamem Zorn über sich selbst füllt, über ihre Existenz, über Alles, und sie findet sich im Gegensatz zu sich selbst über sich selbst".
Die antiken Mythologien bringen den Konflikt zum Ausdruck, den der Mensch fühlt, der sich zwischen den Lebenskräften und Kräften von Werten sieht, die im Gegensatz zueinander stehen. Darum gab es ständig Streit zwischen den Göttern. Nach der sumerischen Mythologie, zum Beispiel, begann die Sintflut, als die Götter miteinander zankten. Diese Sache verursachte Erschütterungen im Himmel, die Götter liefen hin und her, und am Ende stürzte der Himmel ein und die Sintflut begann. Die Zerstörung der Welt resultiert demnach aus einem Mangel an Harmonie.
"Dann sieht sie, wenn sie der Schmerz überwältigt, ihre zeitweilige Rettung, bis er von der Welt verschwunden ist, nur in jenem Lebensstil, in dessen Geiste innen es keinen Widerstand und keine Bremse für alle barbarischen Eigenschaften gibt".
Darum war die antike Welt der Vielgötterei auch barbarisch. In der aztekischen Kultur in Mexiko zum Beispiel, wenn Dürre herrschte, war es üblich, eine junge Frau an einen Holzrahmen zu fesseln und Pfeile auf sie abzuschießen, damit ihr Blut den Boden befruchte und Regen bringe.
"Es ist aber unmöglich, den Geist vollkommen einzusperren [hat der Mensch doch eine Seele], und die spirituelle Schönheit des Menschen und seine innere Moralität klagen ihre Beschämung ein mit furchtbarem Groll, der seiner Seele keine Ruhe lässt, besonders, nachdem die allgemeine Weltanschauung etwas gereift ist, die das Leben von beiden Seiten kontrolliert, von innen und von außen".
Der Mensch begann zu verstehen, dass es in seinem Leben 'innen' und 'außen' gibt. In der Vorzeit neigten die Menschen eher zum Opferdienst, der einen Ausdruck des äußeren Lebens darstellt, als zum Gebet, dem Ausdruck des inneren Lebens. Das innere Leben war zu jener Zeit noch nicht genügend entwickelt, darum ist das Opfer älter als das Gebet. Je mehr die Welt allerdings vorankam, begann der Mensch zwischen den zwei Lebensarten zu unterscheiden und bemerkte auch den moralischen Anspruch, der sich in seinem Innern zu rühren begann.
"So gelangte die Vielgötterei ins Versteck des Buddhismus".
Wie begann Buddha, seine Lehre zu verbreiten? Er sah das Leid in der Welt und gelangte zu der Erkenntnis, man müsse eine Art Versteck vor dem Leid finden, wobei das ultimative Versteck vor dem Leid im Nirwana (Verlöschen) bestehe:
"der die Bestrebung seiner Ruhe in der Unverselbstung und dem absoluten Verlorengehen findet".
Das Ziel des buddhistischen Lebens besteht im Erlangen der Erleuchtung, des Nirwana, des Nicht-Selbst-Seins. Praktisch handelt es sich um eine Art zeitweiligen Todes. Dem Menschen ist der Tod vergönnt, und danach kehrt er ins Leben zurück.
Es gibt im Menschen eine edle spirituelle Neigung, der man freien Lauf lassen kann. Wenn der Mensch aufhört, sich mit den Banalitäten dieser Welt zu beschäftigen, wenn er sich auf sein Inneres konzentriert und seine Seele von allen Lasten befreit, die sich dort angesammelt haben, dann kann in ihm plötzlich ein Lebensstrom losbrechen, der eine gewisse Beziehung zur höheren Welt hat. Die Sache erscheint auch in unseren Quellen: "...gleichwohl wird die Gier nicht gestillt" (Kohelet 6,7). Ein Gleichnis von der Königstochter, die einen Dörfler heiratet, aber nicht aufhört, sich nach dem Palast ihres Vaters zu sehnen. Der Dörfler ist ein guter Mensch, der sie mit Speisen und Kleidung erfreut, wie es seine Mittel erlauben, doch sie ist nicht damit zufrieden und bleibt traurig - und so geht es auch der Seele. Wenn man sich der Verbindung der Seele zu ihrem Ursprung bewusst ist, ergibt sich eine natürliche Bestrebung zu sterben.
Im Wochenabschnitt Wa'etchanan heißt es (Dt. 5, 20-22):
"Und es geschah, wie ihr hörtet die Stimme mitten aus dem Feuer, und der Berg brannte im Feuer".
Bei der buddhistischen Erleuchtung wird einem das 'Sehen' des Lichtes zuteil. Am Berge Sinai wird einem das Hören der Stimme zuteil. Licht ist unpersönlich, und die Stimme ein Sprechen: Es wird mit jemandem gesprochen; der Mensch begegnet jemandem. Bei der buddhistischen Erleuchtung existiert kein Gesprächspartner, und darum gibt es auch keine Freude. Das Lächeln des Buddhas drückt zwar Zufriedenheit aus, doch hinter dem Lächeln verbirgt sich ein zynischer Spruch: 'Du glaubst, es gibt etwas zu wissen, darum wisse, dass es nichts zu wissen gibt, und das ist die höchste Wahrheit'. In den Augen des Buddhisten besteht also das Ziel des Wissens und die Zurücklassung der Unwissenheit in der Befreiung von einem eingebildeten 'Ich', d.h. letzten Endes muss der Mensch verschwinden.
Die Tora fährt fort:
"da tratet ihr zu mir, all die Häupter eurer Stämme und eure Ältesten. Und sprachet: Siehe, gezeigt hat uns der Ewige, unser G~tt seine Herrlichkeit und seine Größe, und seine Stimme haben wir gehört mitten aus dem Feuer. Diesen Tag haben wir gesehen, dass G~tt reden kann mit einem Menschen und er leben bleibe. Und nun - warum sollen wir sterben?".
Vor dem Stand am Berge Sinai dachten die Kinder Israel, es lohne sich zu sterben, denn dies sei der einzige Weg, dem Ursprung des Lebens zu begegnen. Doch beim Stand am Berge Sinai entdeckten sie, dass das Leben dem Tode vorzuziehen sei: "Diesen Tag haben wir gesehen, dass G~tt reden kann mit einem Menschen und er leben bleibe. Und nun - warum sollen wir sterben?". Ebenso heißt es: "Das Leben und den Tod hab' ich dir vorgelegt" (Dt. 30,19). Die natürliche Wahl fällt auf den Tod, denn die (spirituelle) Seele sehnt sich nach ihrem Anbeginn. Doch die (den Körper kontrollierende) Seele liebt die diesseitige Welt, und darum denkt der Mensch gar nicht daran, sie vom Körper zu trennen. Die Neuigkeit der Tora lautet: "aber du sollst das Leben erwählen, auf dass du lebest, du und deine Nachkommen" (ebda.). Es gibt eine Fortsetzung der Lebendigkeit in dieser Welt, und das ist eine enorme Neuigkeit.
Der Buddhismus, dem diese Offenbarung nicht vergönnt war, ist seiner Methode treu logisch, und darum erhebt er den Tod zum Ideal. Dabei handelt es sich um die radikalste Auffassung, allerdings gibt es auch spirituelle Lehrmeinungen anderer Art.
Rabbiner Kuk fährt fort:
"Der Becher des Zornes über das Leben und dessen Bitterkeit, das gefühlte Konzentrat der ganzen Wirklichkeit, fließt über seinen ganzen Rand, und alle Geräte des Verstandes und des Gefühles, des Glaubens und des Vorstellungsvermögens füllen sich mit einer einzigen Bestrebung des Wollen alles Wollens, nämlich restlos und spurlos ausgelöscht und ausradiert zu werden".
Das ist die fundamentale Intuition des Buddhismus, das Streben nach dem Unsein, und dazu gibt es noch viel zu bemerken. Gleichzeitig sehen wir in der Realität, dass der Buddhismus in dieser Welt einen festen Platz einnimmt - es gibt eine buddhistische Gesellschaft, es gibt buddhistische Kloster und Mönche, obwohl es das alles eigentlich gar nicht geben sollte. Die Welt ist eben voller Widersprüche.
4. Teil
Name der Unreinheit
Die Schrift deutet uns den Einfluss an, den unser Vorvater Awraham auf den Fernen Osten ausübte. Nicht von ungefähr bezeichnet man in Indien den Gott, der die Welt geschaffen hat, mit dem Namen Awrahams: 'Brahma' oder 'Brahman'. Sie erkennen Awraham als Quelle an, wie es bei den talmudischen Weisen heißt:
"Dies ist die Entstehung des Himmels und der Erde, da diese geschaffen wurden [behibar'am] - lies nicht behibar'am, sondern beAwraham" (Gen. 2,4/Sohar III 38a).
Die Dinge werden im Traktat Sanhedrin (91a) näher erklärt:
"Welche Geschenke waren es? Rabbi Jirmeja bar Abba erwiderte: Das lehrt, dass er ihnen die Namen der Unreinheit übergab".
"Namen der Unreinheit" - damit sind alle möglichen spirituellen Formeln gemeint, die unser Vorvater Awraham den Söhnen des Ostens übermittelte. Doch das ist merkwürdig: Warum übermittelt ihnen Awraham etwas Unreines, er liebt doch seine Kinder?! Erklärte Rabbiner Getz sel. (seinerzeit der Rabbiner der heiligen Stätten am Tempelberg), dass er ihnen Dinge übermittelte, die uns als unrein gelten, doch rein für jene. Sie sind für uns 'unrein', weil sie dem Menschen keine moralische Erhebung als Mittelpunkt seiner spirituellen Entwicklung abverlangen. Die Prophetie hängt von moralischer Änderung ab: "Die Göttlichkeit ruht nur auf einem, der weise, kräftig und reich ist" (Schabbat 92a), auf jemandem, der von jedem Menschen lernt (= weise), der seinen Trieb bezwingt (= kräftig) und sich an seinem Anteil freut (= reich). Es gibt eine moralische Formel für die Verbindung mit der Göttlichkeit: Man muss mit jemandem sprechen und Gefallen in seinen Augen finden; man muss 'eine Stimme hören' und nicht 'das Licht sehen'. Die Prophetie kommt nicht automatisch, sie hängt vom Willen G~ttes ab.
Demgegenüber ist die Sache im Fernen Osten doch sehr einfach. Die Beschäftigung mit der Welt des Spirituellen verpflichtet zwar zu bestimmten moralischen Änderungen, aber nur als Beigabe, nicht als zentralen Punkt. Es gibt eine Technik der Meditation zur Schaffung der Verbindung mit der spirituellen Welt, die sich im Wesentlichen auf einen 'Namen der Unreinheit' stützt, auf indisch: 'Mantra'. Das ist die Wissenschaft von den Namen - Worte, die die Grundform der menschlichen Seele darstellen, die, wenn sie in ständiger Wiederholung ausgesprochen werden, über die Kraft verfügen, das Bewusstsein zu beeinflussen. Das zentrale Mantra des Hinduismus lautet 'Om' (bekannt als einer der 72 Namen G~ttes), es gibt aber auch längere Mantras.
Es wird von einer jungen Israelin erzählt, dass sie während ihres Aufenthaltes im Osten einen der Weisen fragte, wie ihr persönliches Mantra laute. Als ihm bewusst wurde, dass sie aus Israel kam, antwortete er ihr, ihr Mantra sei: "Schma Jisrael, haschem elohenu haschem echad", was sie dazu veranlasste, nach Israel zurückzukehren und sich in jüdische Studien zu vertiefen.
Der Weg nach Osten
Letzten Endes gilt es zu verstehen, dass die Begegnung mit dem Osten uns bereichern soll, weil er uns mit jenem Prinzip konfrontiert, das im Buch Orot Hakodesch von Rabbiner Kuk "die Welt-durchdringende Lebendigkeit" genannt wird. Das Bewusstsein für die großen Strömungen des Lebens ist ein Fundament, das wir sowohl im Sohar als auch bei den 'Söhnen des Ostens' finden. Daneben gibt es im Judentum einen Bestandteil, der den Lehren des Ostens fehlt, und zwar der Optimismus im Verhältnis zur Richtung der Lebensströme, das 'Tüpfelchen auf dem i' der Ethik.
Im Verlauf von etwa 4000 Jahren seit unserem Vorvater Awraham wanderte das Volk Israel durch alle Teile der westlichen Welt und korrigierte auf die eine oder andere Weise die Sünde der Auflehnung des Turmbaus zu Babel. Nachdem wir anscheinend den größten Teil dieses Werkes vollbracht hatten, war die Zeit gekommen, wieder in unser Land zurückzukehren, und so kehrten wir wirklich wieder heim ins Land Israel. Und was gibt es jetzt zu tun? Jetzt beginnt ein neuer Prozess, und zwar die Begegnung mit dem östlichen Teil der Welt.
Wollen wir noch bemerken, dass während der ganzen kolonialistischen Epoche außer den Anthropologen und ein paar Mystikern die Großmächte, die im Osten herrschten, sich überhaupt nicht für die örtliche Kultur interessierten. Die generelle Einschätzung war eine von der Überlegenheit der westlichen Kultur. Nach dem Zerfall der kolonialistischen Imperien jedoch, und in Folge des außerordentlichen moralischen Versagens der westlichen Welt im Zweiten Weltkrieg entstand eine Situation, in der die Unterdrücker von gestern vom Inhalt bezaubert waren, der sich bei den ehemaligen Unterdrückten fand. Auf paradoxe Weise suchte der Westen nun im Osten die Antwort auf seine existenziellen Fragen. Und so begann in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts ein stetig wachsendes Strömen von Leuten gen Osten, das bis auf den heutigen Tag anhält. Viele westliche Jugendliche machen sich auf zu spirituellen Forschungsreisen nach Indien, Tibet, Japan und weitere Länder.
Das Volk Israel hat sicher einen Anteil an diesem Strömen. Die Reise gen Osten wurde zu einer breiten Erscheinung bei Jugendlichen, die ihren Weg suchen. Die Sache zeugt vom Beginn eines Prozesses, einer Art 'Zweiter Teil' des Einflusses des Volkes Israel auf die Menschheit, nur das er diesmal auf den Osten gerichtet ist. Wegen der modernen Technologie besteht heute keine Notwendigkeit, g~ttbehüte in die Verbannung geschickt zu werden. Die geografische Entfernung bedeutet kein Hindernis, man kann auch aus der Ferne Einfluss nehmen. So kann man wohl sagen, dass in den kommenden Jahrzehnten die Begegnung mit dem Osten allem Anschein nach das zentrale Thema in Hinsicht auf unseren spirituellen Einfluss auf die Menschheit stellen wird.