Rav Uri Scherki
Zum Gebet - Erkenntnis
Übersetzung: Rafael Plaut
Von der Webseite Kimizion.org
Ein Mensch ist nur ein richtiger Mensch, wenn er Verstand hat. Ohne Verstand gleicht er dem Tiere. Darum ist der Verstand das Erste, worum wir in der Schmone-Esre bitten. Ist das aber nicht ein Widerspruch? Wie kann man um etwas bitten, wenn man keinen Verstand hat? Darum kann es nicht angehen, daß der erste Segensspruch der "mittleren" Segenssprüche mit "Gib uns Verstand" anfängt, so wie die anderen Bitten: Heile uns, segne uns, usw. Zwangsläufig müssen wir ein Minimum von Verstand beim Beter voraussetzen, den er gratis vor dem Gebet erhalten hat. Darum beginnt dieser Bittsegensspruch ausgerechnet mit einem Lob für das bereits Bestehende: "Du begnadest den Menschen mit Erkenntnis...". Erkenntnis wird dem "Menschen" gegeben, der durch das Essen vom Baum der Erkenntnis gesündigt hatte, "und lehrst den Menschen Einsicht", und Einsicht den Menschen, die wegen fehlender Einsicht sündigten. Von dieser Grundlage ausgehend bitten wir um eine Zugabe: "...begnade uns". Wir bitten darum, daß die Weisheit "von dir" sei. Auf den ersten Blick scheint diese letztere Bitte überflüssig zu sein. [Von wem sonst?!] Ihre Bedeutung besteht vielmehr darin, das Ziel dieser Einsicht sei die Mitteilung an uns, wer du seist. Die Einsicht über das Wesen G~ttes ist von allen Weisheiten die begehrteste, und nicht etwa das intellektuelle Erlebnis. "Nicht rühme sich der Weise seiner Weisheit... sondern dessen rühme sich, wer sich rühmen mag: einzusehen und mich zu erkennen" (Jirmijahu 9,22-23).
Über den Inhalt der Weisheit, um die wir beten, bestehen zwei Lesarten: "Erkenntnis, Einsicht und Verstand" (aschkenas und sfaradi), "Weisheit, Einsicht und Wissen" (Chassisdim und Edot hamisrach). "Erkenntnis", im Gegensatz zu "Wissen", bedeutet ganz einfach eine Erkenntnis erleben und direkt einen Standpunkt beziehen zu können. Durch die Einsicht (bina) gelangt der Mensch zum Ursprung der Erkenntnis, der Schlußfolgerung, der Grundlage seines Standpunktes, d.h. der Fähigkeit zur Unterscheidung. (Bina ist die weibliche Form des Wortes bin, das zwischen Dingen unterscheidet). Der "Verstand", im biblischen Sinne des Wortes, bezeichnet die Fähigkeit, aufgrund der Einsicht einen praktischen Erfolg zu erzielen.
Die zweite Lesart, "Weisheit, Einsicht und Wissen", beschreibt die Reihenfolge der Bildung. "Weisheit" bedeutet das Erlangen des Dings an sich, die "Einsicht" die Untersuchung darüber, was durch die Weisheit erlangt wurde, und "Wissen" bedeutet die Verinnerlichung, die die theoretische Erkenntnis der Lebenswirklichkeit näherbringt.
"Gelobt seist du, Ewiger, der du mit Erkenntnis begnadest". Der in der Gegenwartsform gehaltene Abschluß aller Bittsegenssprüche will ausdrücken, daß bevor wir überhaupt unser Gebet anfangen, G~tt uns das Erbetene schon geben will, nur fehlte dazu noch das Erwecken des menschlichen Willens, sich dem göttlichen Willen anzugleichen. Durch das Gebet wird der Wille des Menschen eins mit dem Willen G~ttes.