Rav Uri Scherki
Zum Gebet - Erlöser Israels
Übersetzung: Rafael Plaut
Von der Webseite Kimizion.org
Schon die Existenz an sich des vierten Bittsegensspruches der Schmone-Esre, "Erlöser Israels", löst Verwunderung aus, da doch auch der zehnte Segensspruch von der Erlösung handelt, nämlich: "Stoße in das große Schofar zu unserer Befreiung", und wozu brauchen wir zwei Segenssprüche zur Erlösung? Anscheinend gibt es verschiedene Erlösungen. Einerseits die Erlösung des jüdischen Volkes aus der Zerstreuung - das ist die letztendliche Erlösung. Sie bildet das Thema des Segens "Stoße in das große Schofar zu unserer Befreiung", die eigenstaatliche Selbständigkeit. Im Gegensatz dazu hat der Segensspruch "Gelobt seist du, Ewiger, der du Israel erlösest" die Beschreibung der Erlösungen Israels in jeder Generation zum Thema, sowohl in Zeiten des Exils (Galut) als auch [und sogar] während der endgültigen Erlösung. Wir benötigen Erlösung von den Qualen, die uns Tag für Tag heimsuchen. Auch wenn diese zahlreichen Erlösungen uns nicht zur endgültigen, vollkommenen Erlösung führen, brauchen wir doch ab und zu Erlösung von einem Leiden.
Wenn zum Beispiel eine wirtschaftliche Notlage über uns hereinbricht, oder antireligiöse Gesetzgebung, oder sonstige ungerechte Verordnungen, dann beten wir: "Schaue auf unser Elend, führe unseren Streit", auch wenn wir nicht die vollkommene Erlösung meinen. - Diese Bracha enthält zwei Bitten: "Schaue auf unser Elend", daß sich der Herr der Welt unser erbarme, da wir uns in einer Notlage befinden, so wie es heißt: "Gesehen hab ich das Elend meines Volkes, das in Ägypten, und seine Klagen über seine Treiber habe ich gehört, ja, ich kenne seine Leiden. Und ich bin herabgekommen, es zu retten" (Ex. 3,7-8). Der Herr der Welt hat sozusagen sein eigenes Schicksal mit dem unsrigen verknüpft, und unsere Leiden sind die Leiden der göttlichen Präsenz; darum bitten wir: "Schaue auf unser Elend".
"Führe unseren Streit" verbirgt eine tiefsinnigere Bedeutung. Mit dem Ausdruck "Streit" bezeichnet die Tora die Rechtsprechung: "So sollen die beiden Männer, welche den Streit haben, hintreten vor dem Ewigen" (Dt. 19,17). Wir bitten G~tt um Beistand vor dem Rechtsspruch der Geschichte. Worum geht es im Einzelnen? Im Talmud (Ketubot 111a) wird berichtet, daß G~tt mit Israel und den Völkern der Welt einen Bund schloß, eine Art Vertrag für die Dauer der Galut. Damit sie wie vorgesehen stattfinden kann, wurde über uns für die Zeit der Galut verhängt, daß wir uns nicht gegen die Völker auflehnen können, daß wir "nicht die Mauer erstürmen" (ebda.). Gleichzeitig verpflichtete G~tt die Völker, uns nicht über die Maße zu knechten. So lauteten die Bedingungen, das war der Vertrag über die Galut, solange die Galut dauern mußte - und g~ttseidank haben wir sie bereits hinter uns. Manchmal hielten sich die Völker nicht an ihre vertragsmäßige Verpflichtung, Israel nicht zu sehr zu unterdrücken. Ganz sicher war es den Völkern der Welt während unseres Aufenthaltes in ihren Ländern erlaubt, uns an der Bemächtigung von Schlüsselpositionen zu hindern, nicht die Herrschaft über ihr Land an uns zu reißen - aber daß sie uns verfolgen?! Das gehört in die Kategorie "über die Maße", die im Talmud erwähnt wurde. Wir erbitten von G~tt "Führe unseren Streit", wenn die Völker der Welt ihr Verbot übertreten und Israel über die Maße knechten. Wir verfügen damit über eine rechtliche Handhabe, daß G~tt uns zur Seite steht. Wir bitten auch darum, diese Erlösung schnellstens abzuwickeln. In manchen Lesarten heißt es: "erlöse uns schnell in vollkommener Erlösung" oder "schnelle Erlösung", oder ähnliche Ausdrücke. Bei den anderen Bittsegenssprüchen finden wir keine solche Klausel der beschleunigten Ausführung, nur bei denen, die etwas mit der Erlösung Israels zu tun haben. Nicht bei der Heilung - die kann ruhig langsam erfolgen. Verzeihung der Sünden - kann langsam erfolgen. Selbst die "Begnadung mit Erkenntnis" kann langsam erfolgen. Aber nicht die Erlösung. Bei der Erlösung besteht eine besondere Dringlichkeit, weil jedes Übergangsstadium der Nation gefährlich werden kann. Die Galut funktioniert nach ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit, und darum haben wir keine Schwierigkeit, irgendwie durchzukommen. Ebenso, wenn wir in unserem eigenen Lande leben, dort sind wir stark und können unsere Existenz sicherstellen. Das Problem besteht in der Übergangsphase, wie die talmudischen Weisen sagten: "für den Aus- und Einziehenden gibt es keinen Frieden - sogar von Talmud zu Talmud [vom jerusalemischen zum babylonischen]" (Secharja 8,10; Chagiga 10a). Wenn es in der Übergangsphase der Erlösung zu langsam vorangeht, geraten wir in Gefahr, und darum beten wir: "Erlöse uns rasch [eine vollkommene Erlösung] um deines Namens willen".